Noahs Frau

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Man kann sich seine Nachbarn in der Regel nicht aussuchen, sondern muss irgendwie mit ihnen auskommen. Aber manchmal ist der Nachbar einfach zu nahe. Mein nächster Hausbewohner — seine Tür ist auf dem gleichen Stockwerk drei Meter von der meinen entfernt — heißt Norbert und raubt mir nicht selten den letzten Nerv.

Neulich klingelte er und erklärte mir auf dem kalten Hausflur ohne weitere Einleitung, mit vor Aufregung glänzenden Augen: „Ist das nicht bemerkenswert? Dass man so viel von dem Archebauer Noah weiß, aber nur so wenig von seiner Frau? Hast du dir das schon einmal überlegt?“

War der Mann übergeschnappt?

„Ich finde das äußerst seltsam“, setzte Norbert seinen Gedanken unbeirrt fort, „in der Schöpfungsgeschichte werden lang und breit die Bauanleitungen wiedergegeben. Dreihundert Ellen lang, fünfzig breit, dreißig hoch, der Eingang an der Seite, drei Stockwerke, alles mit Pech abgedichtet. Fertig ist die Arche.“

„Ja, danke“ sagte ich und machte Anstalten, die Tür zu schließen. Wo er das jetzt wieder aufgeschnappt hatte. Aber er war nicht zu bremsen.

„Und dann die Passagierliste — Noah selbst, und seine Söhne, die er gezeugt hatte, als er fünfhundert Jahre alt war. Dann die Frauen seiner Söhne. Und seine Frau — wenigstens die hätte man doch beim Namen nennen können, finde ich.“ Norbert machte ein bekümmertes Gesicht. “Bei allem, was sie durchmachen musste. Mehr als vierzig Tage lang nur Wasser sehen, für alle kochen und Wäsche waschen. Und ständig das ganze Tiergewese um sie herum, mit Schlangen und Würmern und Löwen und Tigern. Echt anstrengend, oder?“

An welcher Stelle hatte er meine Aufmerksamkeit geweckt? War es der Zeugungsakt in so hohem Alter? Ich konnte mich nicht bremsen und sagte, „Am bemerkenswertesten findest du wahrscheinlich, dass man mit fünfhundert noch Vater werden kann … Dürfte objektiv mühsam gewesen sein, das muss ich zugeben.“

„Ich finde es jedenfalls erstaunlich,“ spann Henrik ungerührt seinen Gedanken weiter. „Wenn ich so darüber nachdenke, lässt es die Autoren der Bibel nicht gut aussehen, dass sie wiederholt die Namen seiner Söhne nennen, aber nie den Namen seiner Frau. Ohne die hätte es die Söhne doch gar nicht gegeben.“

Norbert der Schlaumeier.

 „Die arme Frau“, fuhr er fort, „wie sie wohl geheißen hat? Hat nicht jeder das Recht auf einen Namen?“, sagt er verträumt, „vielleicht hieß sie Sarah oder Lara oder Ruth oder Deborah …“

„Oder Bathseba oder Tamara oder Tabata — ist dir klar, wie lächerlich du klingst?“, fuhr ich dazwischen. „Ich habe für solches Klein-Klein weder Lust noch Zeit. Wo du das wieder her hast …“ Ich machte einen neuerlichen Versuch, die Wohnungstür zu schließen.

Norbert stellte einen Fuß dazwischen. „Nimm das nicht auf die leichte Schulter“, sagte er mit Nachdruck und einer Hand fest auf meinem Türgriff, „ich finde das erstaunlich, äußerst erstaunlich. Immerhin geht es um Noah bzw. seine Frau!“

„Entspann dich,“ sagte ich, um die Situation zu entschärfen, „ich hab’s nicht so mit der Bibel.“

„Deine Sache“, erwiderte er ungerührt, „aber nachdenken wird man wird doch noch dürfen.“ Er schien jetzt enttäuscht und war vielleicht sogar bereit, mich in Ruhe zu lassen. Aber dann fiel ihm noch etwas ein.

„Es gibt noch andere Frauen in der Bibel, die keine Namen haben, hast du das gewusst? Scheint eine Macke der Autoren zu sein. Finde ich einfach erstaunlich.“ Er ließ die Tür los und wandte sich zum Gehen. Die Enttäuschung über mein unverhohlenes Desinteresse war ihm anzumerken.

Dabei war es nicht das erste Mal, dass ich seine Spinnereien nicht richtig würdigte. Einmal hatte er versucht, mir weiszumachen, dass man im Leben umso erfolgreicher sei, je heftiger man von der Schule geflogen war; als Beispiele nannte er Humphrey Bogart und Salvador Dali. Bei anderer Gelegenheit hatte er mir voller Begeisterung berichtet, dass er demnächst an einem Rasenmäherrennen teilnehmen werde, was für ihn wohl eine Vorstufe zu olympischen Ehren darstellte. Ich habe mir nie vorzustellen vermocht, woher er seine obskuren Erkenntnisse hatte.

Zum Abschied hob er eine Hand und winkte mir zu. Seine Bewegung ließ mich an einen Priester denken. Unsere Türen fielen gleichzeitig ins Schloss.

Manchmal wünsche ich mir andere, wesentlich simpler gestrickte Nachbarn. Dann wäre das Leben erstaunlich einfach.