Ein Abend in der Opernbar

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Mehrere kontaktsuchende Frauen, die er auf dem Dating-Portal für die ältere Generation gefunden hatte, waren schon durch sein persönliches, fachmännisch entwickeltes Bewertungsraster gefallen: zu jung oder zu dumm für einen 60jährigen Ingenieur, zu wenig kultiviert, zu weit entfernt, zu dominant, auf dem Foto zu hässlich. Seine eigenen Ansprüche waren klar und deutlich formuliert, da kannte er keinen Kompromiss.

Aber eine war in der engeren Auswahl geblieben: Sabine. Sie hatte den Test mit dem Plot aus dem Roman „Gut gegen Nordwind“ glänzend bestanden, und seine folgenden Tests — die Fragen nach Politik und Einkommensverhältnissen, nach Familie und früheren Beziehungen — hatten ihr ebenfalls keine Probleme bereitet. Er beschloss, den nächsten Schritt zu tun und ging an seinen Computer.

„Liebe Sabine, wenn ich das zu einem so frühen Zeitpunkt sagen darf, vielen Dank für deine letzte Mail. Wir funken auf derselben Wellenlänge. Könnte ich ein Treffen vorschlagen, um unsere Erwartungen zu besprechen? Ich würde mich sehr freuen, dich kennenzulernen.“

Es dauerte mehrere Stunden, bis ihre Antwort eintraf. Die anschließenden Nachrichten folgten schnell aufeinander.

Sabine:

„Hallo, guten Morgen und danke. Ja, warum nicht, könnte interessant sein.“

Er:

„Liebe Sabine, was ist mit heute oder morgen Abend?“

Sabine:

„Morgen passt es mir gut, gegen neun Uhr? In der Opernbar. Ist mein Stil.“

Er:

„Großartig. Woran erkenne ich dich? Dein Bild auf dem Portal war technisch irgendwie unscharf.“

Sabine:

„Du wirst mich schon sehen. Auf jeden Fall werde ich dich erkennen.“

Die Stunden vergingen langsam. Am nächsten Tag stand er früh auf, ging zum Friseur und kaufte sich ein neues Paar Schuhe. Er schwebte im siebten Himmel. Am Nachmittag nahm er ein Bad, zog seinen Opernanzug an und trug einen Tupfer seines erlesensten Parfüms auf.

Die Bar war halb voll. Im Hintergrund war leise Musik zu hören. Er setzte sich so, dass er den Raum überblicken konnte und konsultierte die Getränkekarte. Hochpreisig, ohne Zweifel, aber er entschied sich doch für ein Glas Champagner zu neun neunzig. Für einen solchen Anlass nur das Beste.

Diskret beurteilte er die anderen Gäste. Es gab einige in ein Gespräch vertiefte Paare, die man vom Alter her ausschließen konnte. In der Ecke saß eine alleinstehende Dame und las. Könnte sie es sein? Dann bemerkte er zwei Mittfünfzigerinnen, die in ein Gespräch vertieft waren, eine saß mit dem Rücken zu ihm. Würde Sabine das Spiel aus dem Roman jetzt mit ihm spielen und ihn erst einmal durch ihre Freundin taxieren lassen, während sie unerkannt bleiben konnte?

Ein zweites Glas Champagner. Jetzt vorsichtig mit dem Alkohol, sagte er sich.

Neun Uhr verging, nichts passierte. Akademisches Viertel vielleicht. Oder ein Stau. Noch einmal rückte er feierlich seine Krawatte zurecht. Dann bemerkte er die einsame Frau, die auf einem Barhocker saß. Sie sitzt doch nicht da und erwartet, dass er den ersten Schritt macht? Hatte sie nicht gesagt, dass sie ihn erkennen würde?

Halb zehn rückte näher. Er schaute auf sein Telefon. Keine neue Nachricht. Pünktlichkeit war offensichtlich nicht jedermanns Sache.

Die Kellnerin kam herbei, unterbrach ihn in seinen Kalkulationen und fragte ihn, ob er noch etwas bestellen wolle. Er fühlte Zorn über diese Unterbrechung in sich aufsteigen, und barsch lehnte er ab.

Ein weiteres Frauenpaar betrat die Bar; eine von ihnen wies eine gewisse Ähnlichkeit mit dem Foto auf. Er begann sich zu fragen, ob er aufstehen und sie direkt ansprechen sollte. War das passend? Oder brachte es ihn in die Defensive? Ihm fiel auf, dass ihm ein detaillierter Plan fehlte, wie er die erste Frage formulieren sollte. „Bist du Sabine?“ klang so steif. Vielleicht: „Könnte es sein, dass ich nur auf dich gewartet habe? Sabine, richtig?“ wäre dagegen cool.

Um zehn Uhr bestellte er ein drittes Glas Champagner. Definitiv das letzte. Zum hundertsten Mal suchte er mit den Augen den Raum ab. Einige Damen könnten in Frage kommen. Aber bisher hatte keine von ihnen ein Interesse erkennen lassen. Er spürte Enttäuschung, Selbstmitleid und ein Gefühl der Niederlage.

Als das Opernpublikum nach der Vorstellung laut und lärmend in die Bar strömte, winkte er und verlangte die Rechnung. Die Kellnerin kam nach ein paar Minuten vorbei. Er beglich den Betrag in bar und ließ die drei kleinen Münzen in der Schale liegen.

Als er nach Hause kam, sah er, dass auf dem Dating-Portal eine Nachricht für ihn angekommen war. Eine Nachricht von Sabine.

„Das war vielleicht etwas. Ich habe dich den ganzen Abend beobachtet und mich am Ende gegen uns entschieden. Ich sehe keine Basis für eine Beziehung, nichts für ungut. Es war einfach zu schäbig, mir ein dürftiges Trinkgeld von dreißig Cent zu hinterlassen. Test nicht bestanden.“