Die Frau gegenüber

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Als sie in Mannheim in das Abteil trat – ich hatte mir bewusst einen Abteilplatz im ICE ausgesucht, weil man hier häufig ungestört bleibt – sah ich als erstes die Plastiktüten, die sie in beiden Händen hielt.

Sie rief mir sofort einen Vorfall in Erinnerung, den ich vor Jahren erlebt habe, als ich noch regelmäßig Dienstreisen in aller Herren Länder machte. Auf einem der Flughäfen dieser Welt standen wir dicht gedrängt am Gepäckausgabeband und warteten auf unsere Habseligkeiten. Eine Frau mittleren Alters drängelte sich ganz nach vorn, damit ihre Koffer auf keinen Fall von jemandem anderen mitgenommen würden. Man kennt das ja, es ist nicht ungewöhnlich.

Bald nachdem das Band anlief, kam ihr Gepäck in Sicht: es waren lediglich notdürftig am oberen Ende zusammengebundene Plastiktüten. Hektisch sammelte sie die ersten zwei ein, während die dritte schon weiterrollte, bevor sie danach greifen konnte. Völlig außer sich versuchte sie ­– angesichts der dicht stehenden Menge an Fluggästen natürlich vergeblich – mit der Bandgeschwindigkeit Schritt zu halten. Ihre letzte Tüte verschwand hinter den Plastiklamellen in der dunklen Wand, was sie zu lautem Schreien veranlasste, man solle das Band stoppen. Sie war völlig panisch. Man redete auf sie ein, dass ihr Gepäck bald wieder am anderen Ende auftauchen werde, aber das überstieg ihre Auffassungsgabe. Borderliner wahrscheinlich, habe ich mir hinterher gedacht.

Die Passagierin im ICE setzte sich mir gegenüber und platzierte ihre Tüten auf den Sitz neben sich. Sie war eine gepflegte Erscheinung, völlig anders als der Fluggast, an den ich unwillkürlich gedacht hatte. Ihre schwarzen Haare waren sorgfältig zu einem halblangen Bob frisiert, was gut zu ihrem strengen Business-Outfit passte. Sie lächelte mich freundlich an. Ich wandte mich wieder meiner Zeitung zu. Wir schwiegen. Außer uns beiden blieb das Abteil leer.

Der Zug rollte aus dem Bahnhof. Aus dem Lautsprecher begrüßte uns der Zugchef und teilte mit, dass wir Mannheim leider mit einer Verspätung von sieben Minuten verlassen hätten.

 In der Ruhe des Abteils hörte man jedes Geräusch, sodass ich aufblickte, als sie sich an einer ihrer Tüten zu schaffen machte.

„Wollen Sie mal sehen?“, fragte sie mit einer recht tiefen, wahrscheinlich professionell ausgebildeten Stimme. Unwillkürlich schaute ich auf und nickte. Sie hielt mir die offene Tüte hin.

Was ich sah, verschlug mir die Sprache. In der Tüte befand sich ein ganzer Jahrmarkt, in Miniaturgröße natürlich, mit allem, was dazugehört: Riesenrad, Achterbahnen, einem schwindelerregenden Fahrgeschäft mit dem Schriftzug „Polyp“, einer riesigen Schiffsschaukel. Dazwischen standen Currywurstbuden und Bierzelte. Der strenge Geruch von gebrannten Mandeln stieg mir in die Nase, und die Musik eines Kinderkarussells erfüllte die Tüte.

„Wie … außergewöhnlich“, stammelte ich, sobald ich mich einigermaßen gefasst hatte.

„Ja“, sagte sie, „ganz außergewöhnlich, in der Tat. Denn dieser Typ Fahrgeschäft dort“ – sie wies auf ein Hochgeschwindigkeits-Karussell, das die Insassen mit atemberaubender Geschwindigkeit durch die Luft wirbelte – „heißt ‚Big Spin‘ und ist das erste auf dem Kontinent. Ein großer Erfolg!“ Sie lächelte, als ob sie am wirtschaftlichen Ergebnis des Unternehmens beteiligt wäre.

„Und dort, das ist ebenso außergewöhnlich,“ fuhr sie von meiner Fassungslosigkeit unbeeindruckt fort. „Der ‚Free Fall Tower‘ bietet einen freien Fall aus 60 Metern Höhe. Ein absolutes Muss für alle, die den ultimativen Kick suchen. Kann wegen des Platzbedarfs nur ganz selten aufgebaut werden.“

Sie seufzte und schloss die Plastiktüte. Sofort verstummte die Musik, und von gebrannten Mandeln war nichts mehr zu riechen.

Ich war mir nicht sicher, ob ich mir alles einbildete. Träumte ich? Waren das alles … Halluzinationen? Hatte man mir heute Morgen etwas in den Kaffee getan?

„In wenigen Minuten erreichen wir Frankfurt am Main Flughafen. Die nächsten Anschlüsse…“ Die Stimme aus dem Lautsprecher unterbrach meine Gedanken.

Der Zug hielt, ließ Passagiere aus- und einsteigen, und verließ dann schnell wieder den modernen Bahnhof. In unserem Abteil blieben die Frau gegenüber und ich allein.

„Kann ich Ihnen noch etwas zeigen?“, fragte sie nach einigen Minuten. Ihre blonden Haare hatte sie unter einer blauen Skimütze versteckt. An den Füßen trug sie jetzt klobige Stiefel. Sie öffnete eine zweite Tüte und ließ mich hineinschauen.

Was ich sah, überwältigte mich: ein sonnenbeschienenes Alpenpanorama und am Talgrund ein riesiges Gebäude, auf dem Dach den Schriftzug „Hôtel du Soleil“. Unmittelbar daneben konnte man mehrere gespurte Loipen entdecken. Auf den schneebedeckten Wegen fuhren Pferdekutschen, Fußgänger trugen Wintersportgeräte auf den Schultern. Alles strahlte die Ruhe eines mondänen Wintersportortes aus.

„Was …“ entfuhr es mir, als wir Frankfurt-Süd hinter uns gelassen hatten. Wir blieben in unserem Abteil weiterhin allein.

„Ja, seltsam, nicht wahr? Hier, unweit des Erfrischungstands, übt Kronprinz Rudolf von Österreich-Ungarn das Skifahren. Alle offiziellen Biographen werden darüber schweigen, deshalb weiß man nicht, ob er dafür überhaupt begabt war. Großes Interesse an diesem neuen Sport hat er wohl nicht bewiesen.“ Aus der Tüte drang dieses typische knirschende, knisternde Geräusch, als wenn man über eine dünne Schicht von gefrorenem Schnee geht. Überall waren Skifahrer zu sehen, die in eleganten Schwüngen zu Tale wedelten.

Nach einigen Minuten des wortlosen Staunens gelang es mir, meine Mitreisende zu fragen, wie das alles möglich war.

„Das war möglich, weil Kronprinz Rudolf zahlreiche Reisen unternahm und durchaus Interesse an der Natur hatte. Deshalb fiel sein Aufenthalt in den Alpen auch nicht so auf. Wie Sie sehen, wirkt er auf den Brettern eher unbeholfen …“ Ich schaute genauer hin, und tatsächlich, der Mann im schwarzen Wollmantel war noch sehr ungeübt.

„Aber seine große Liebe aus Prag ist nicht dabei,“ sagte die Frau gegenüber in betrübtem Ton,  vielleicht, weil sie gern Zeuge eines historischen Techtelmechtels geworden wäre. Sie schloss die Tüte, nahm ihre Skimütze ab und löste die Haare. Sie wusste, wie man körperliche Attraktivität zur Geltung bringt.

Der Schaffner öffnete die Abteiltür und bat um die Fahrscheine. Es dauerte nur Sekunden, dann hatte er den Scanvorgang auf beiden Telefonen abgeschlossen.

Kurz darauf erreichten wir Fulda mit einer Verspätung von fünf Minuten. Dann fuhr der Zug schnell wieder an.

Einige Minuten vergingen im Schweigen. Wir schauten beide durch das große Abteilfenster auf die vorbeirasende Landschaft. Meine Zeitung hatte ich längst beiseitegelegt. Ich war vollauf damit beschäftigt, mir einen Reim auf diese rätselhafte Frau und ihre Tüten zu machen. Was sie wohl dachte? Ich wusste ja nicht einmal, was ich selbst denken sollte.

Als ich den Blick von dem satten Grün des hessischen Berglands ab-, und meiner Reisegefährtin zuwandte, bemerkte ich, dass sie in ihrem knappen Top und mit den von einer weißen Bandana zusammengehaltenen roten Haaren für die Jahreszeit viel zu sommerlich gekleidet war.

„Das müssen Sie sehen, wenn Sie noch ein wenig Zeit haben.“ Ihre helle Jungmädchenstimme war echt bezaubernd. Sie winkte mich zur gegenüberliegenden Sitzreihe und klopfte auf den Sitz neben sich. Als ich dort Platz genommen hatte, öffnete sie die dritte Tüte.

Plötzlicher Lärm füllte das Abteil. Ich konnte „Peter Pan“ und „Zehn nackte Friseusen“ heraushören. Was man am Grund der Tüte sah, war ein chaotisches Durcheinander von Menschen, die sich rhythmisch im Takt der Musik bewegten, Gläser in der Hand. Überall wurde gegrölt. Viele leicht Bekleidete hielten sich eng umschlungen. An der Straße, die die kleine Verpackung ganz ausfüllte, lag eine Kneipe neben der anderen, jede hell erleuchtet und bis zum Bersten gefüllt.

„Ballermann“, rief sie durch den Krach. „War ich gerade. Dort, neben dem Tresen, können Sie mich sehen, falls Sie gute Augen haben.“ Sie deutete auf die Stirnseite eines der Lokale. So gut waren meine Augen nicht. Aber ich glaubte ihr.

„Ich weiß nicht, was ich sagen soll“, brachte ich heraus. Mir fehlten die Worte, was mir selten passiert.

„Das Wort heißt over tourism, wenn Sie mich fragen“, zwitscherte sie fröhlich und schloss die Tüte zu drei Vierteln, so dass man sich besser unterhalten konnte. „Ich habe Verständnis für die locals, manchmal geht das wirklich zu weit. Mickie Krause und Ikke Hüftgold sind ja nicht jedermanns Sache. Schon die Texte – häufig absolut grenzwertig. Und überall Bierleichen. Kneipenschlägereien. Drum and bass bis in den Morgen.“ Dann, nach einer kleinen Pause: „Bevor Sie fragen, will ich aber betonen, dass ich dort auf der Insel keine Wohnung habe und deshalb den Einheimischen auch nichts wegnehme oder die Mieten hochtreibe. Man ist ja kein Unmensch.“

Ich fragte mich unwillkürlich, ob sie überhaupt ein Mensch war.

Ohne auf einen Kommentar zu warten, fuhr sie fort:

„Aber dann und wann ein bisschen Abenteuer, das ist doch ein Menschenrecht, oder? Sie mit Ihrer Tageszeitung, Sie wissen es doch selbst am besten.“ Ein kecker Ausdruck verbreitete sich in ihrem Gesicht. Sie nestelte an ihrem Bandana.

„Ja, ich weiß nicht …“ erwiderte ich. Mehr fiel mir im Augenblick nicht ein. Der Gesprächsfaden riss ab. Ich blickte aus Verlegenheit wieder nach draußen und hörte, wie sie die Ballermann-Tüte ganz schloss. Stille breitete sich im Abteil aus, nur die Rollgeräusche des Zuges waren noch zu vernehmen.

„Ich muss in Kassel aussteigen“, kam ihre melodische, tiefe, geschulte Stimme vom Sitzplatz gegenüber. „Documenta vorbereiten. Wird nach den Vorfällen des letzten Mals nicht einfacher. Aber was wäre die Kunst ohne Überraschungen. Ein bisschen muss man Anstoß erregen, sonst kann man ja gleich auf KI zurückgreifen.“

Sie schien etwas von ihrem Fach zu verstehen. Ich schwieg. Kunst, KI, auf diesem Gebiet kannte ich mich nicht aus.

„War schön, mit Ihnen geplaudert zu haben“, sagte sie, als der Zug abzubremsen begann. Sie erhob sich in ihrem Businessanzug, der ihr wirklich gut stand. Ebenso wie der Bob.

„Einen angenehmen Tag noch.“ Sie schob die Abteiltür auf, beide Hände auf den Griffen ihrer kleinen Handtasche mit dem Louis-Vuitton-Logo. „Vielleicht sehen wir uns auf der Documenta.“

Der Sitz mir gegenüber war leer. Im Zug konnte man hören, dass auch in Kassel-Wilhelmshöhe alle planmäßigen Anschlüsse erreicht werden.