Eine kleine Verbeugung vor Nicolai Gogol, dem Autor des „Revisor“,
geboren 1809 in Weliki Sorotschinzi in „Kleinrussland“, das heute Ukraine heißt
„Kannst du mich mal schnell zu den Milestones updaten?“, sagt Lukas Meier gerade zu seiner Sekretärin, als sein Telefon klingelt. Meier, 40, immer braungebrannt und immer tippitoppi gekleidet, ist Gesellschafter und Vorstandsvorsitzender der MeierCard AG. Die Firma ist der Elefant in jedem Raum, in dem über Geld gesprochen wird.
Am Apparat ist die Dame am Empfang, um dem Chef mitzuteilen, dass ein Mann das Gebäude betreten hat.
„Fuck, fuck, fuck“ murmelt Meier wenig elegant vor sich hin, „wir waren gerade so im Flow. Und jetzt kommt dieser Steuerfritze. Ziemliche Challenge.“ Zur Sekretärin sagt er: „Hol Carla an den Apparat.“
Carla, ihres Zeichens Chief Financial Officer von MeierCard, hat ihr Büro zwei Stockwerke tiefer. Sie ist mit Steuerfragen —mehr noch allerdings mit Steuervermeidungsfragen — einigermaßen vertraut. Jetzt hört sie sich Meiers kleines Briefing an, verriegelt schnell ihren Computer und verlässt ihren Schreibtisch, um den unwillkommenen, aber vor einigen Tagen bereits behördenseitig angekündigten und deshalb nicht abwimmelbaren Besucher möglichst weit unten abzufangen. Die MeierCard AG kann übermäßige Transparenz nicht gebrauchen, das weiß sie besser als viele andere hier im Haus. Gerade jetzt nicht, wo es im Cashflow hakt. Zu viele Liabilities. Zu viele Zahlen, die nicht so recht belastbar sind.
Sie tritt aus dem Fahrstuhl und sieht den jungen Mann, der am Empfang steht. Sie geht auf ihn zu, und beide stellen ein wenig befangen einander vor.
„Alexander Schless mein Name“, sagte der Besucher, „eigentlich wollte ich den Herrn Meier sehen.“
Carla setzt ihre freundlichste Miene auf, löst einen Knopf an ihrem Jäckchen und erklärt, dass Herr Meier leider, leider im Moment sehr beschäftigt sei. Aber sie als CFO der MeierCard AG könne bestimmt bei allen Steuerfragen weiterhelfen. Ob man nicht erst einmal einen Kaffee oben in der Vorstandslounge nehmen sollte. Schless stimmt zu, wobei ihm eine gewisse Verblüffung anzusehen ist. Naja, das könne man wohl machen, sagt er.
Alexander Schless hat gerade seinen Job bei dem kleinen Lieferdienst verloren. Von Steuerdingen versteht er absolut nichts. Er hat gedacht, dass er wenigstens etwas von Aktien verstünde. Aber nachdem die Anteilscheine der MeierCard AG, deren Kauf er sich seinerzeit praktisch vom Munde abgespart hat, in der letzten Woche so an Wert verloren haben, ist er sich nicht mehr so sicher. Jetzt ist er eher sauer und will vom AG-Chef persönlich wissen, wieso sich sein kleines Portfolio praktisch in Nichts aufgelöst hat.
Auf dem Weg in den zwölften Stock fragt sich Carla kurz, wieso der angekündigte Steuerprüfer allein ist. In der Lounge angekommen konzentriert sie sich aber schnell auf die Aufgabe. Bei einem Latte macchiato berichtet sie Herrn Schless von der derzeitig schwierigen Lage auf den Finanzmärkten. „Die Firma überwacht die Liquiditätsflüsse laufend durch Quality Gates, auch in den outgesourcten Units, das ist uns superwichtig“, sagt sie, „das gehört zu unserer Corporate Culture.“
Schless wirkt unschlüssig und nimmt einen Schluck von seinem Latte. Er versteht nichts, aber beschließt, vorläufig das vornehme Ambiente mit den schallschluckenden dicken Teppichen zu genießen.
Jetzt kommt Carla auf Steuerfragen zu sprechen. „Unser Counterpart im Finanzamt Mitte ist uns eine echte Hilfe“, sagt sie, „auch wenn wir neue Projekte aufgleisen, selbst out of the box, können wir immer mit ihm sprechen.“ Was sie nicht sagt, ist, dass dabei manch diskrete Überweisung der MeierCard AG auf ein Konto auf der Isle of Man eine nicht unwichtige Rolle spielt.
Ob ein solcher Approach auch hier helfen würde, fragt sie sich.
Schless spürt zwar in seinem Inneren noch die ursprüngliche Bitterkeit über die verlorenen Tausender, stellt sich aber jetzt ganz neue Fragen: was hat er mit Steuern zu tun? Er will Geld für einen Sommerurlaub.
Carla ist jetzt bei der Schilderung der skalierbaren Synergieeffekte, die die Firma mit den Partnern in Südostasien erzielen wird. Dort seien die Steuersysteme ja völlig anders und mit den hiesigen nicht vergleichbar, sagt sie, wie Herr Schless sicher wisse. Da müsse manches abgeglichen werden, und das brauche seine Zeit. Aber in der Wirtschaftsprüfungsgesellschaft der MeierCard AG säßen nur High Potentials, dafür könne sie sich verbürgen. Ob Herr Schless nicht noch eine Madeleine wolle, die würden für die Firma jeden Tag extra direkt aus Frankreich geholt – die könne MeierCard gern auch für die Kantine der Steuerprüfungsabteilung bereitstellen, no problem. Sie vermeidet das Wort „spenden“, weil das eventuell steuerliche Bedeutung hätte. Erst muss sie testen, wie der junge Mann vor ihr auf ihre Signale reagiert.
Schless reagiert nicht, und das ist für Carla ein gutes Zeichen.
„Wir können uns für die gute Zusammenarbeit auch anderweitig erkenntlich zeigen“, sagt sie und schaut Schless direkt in die Augen, „da müssen Sie sich nur räuspern. Darf ich Sie Alexander nennen?“
Schless freut sich, bejaht die Frage und überlegt, was jetzt zu tun ist. Dann sagt er: „Die Kaffeekasse ist ja immer der erste Gedanke, der einem so in den Sinn kommt…“
Carla kann ihr Glück kaum fassen. Alles easy, denkt sie, ein echter No-Brainer. Zu ihrem Gegenüber sagt sie: „Das besorge ich gleich. In der Zwischenzeit sprechen Sie vielleicht mit meinem Kollegen, Sascha Klein, der will bestimmt ein Wort mit Ihnen wechseln.“ Sie spricht in ihr Telefon und verabschiedet sich dann fröhlich und „nur für zwei Minuten“.
Sascha Klein ist Anteilseigner und Compliance Officer der MeierCard AG, was er aber bei seiner Vorstellung verschweigt. Den Besucher begrüßt er mit einem markigen Handschlag, dann schildert er, seinen taubenblauen Maßanzug mehrfach zurechtrückend, die aktuellen Anstrengungen der Firma im Bereich Quality Management und Benchmarking. „Wow, denken Sie jetzt wahrscheinlich, Herr Schless, soviel Transparenz gibt es in Steuerdingen selten. Und da sind Sie natürlich spot-on.“
Alexander Schless denkt gerade etwas anderes, nämlich wie er am schnellsten an sein verlorenes Geld kommt. Nach ein paar Sekunden sagt er unvermittelt: „Wäre es möglich, bei Ihnen einen Kredit zu erhalten?“
Klein stutzt eine Millisekunde, aber nicht länger. Dann strahlt er, stellt noch einmal schnell fest, dass sie in der Lounge allein sind, und sagt dann: „Aber natürlich, Finanzen sind doch unsere Kernkompetenz! Das machen wir gleich hier alles roger. Über welchen Betrag reden wir?“
In Schless‘ Kopf geht es jetzt gewaltig durcheinander. Er stellt überschlägig die Positionen zusammen, die ihm in der Eile für seinen Sommerurlaub einfallen: Flug, Hotel, neue Koffer, Badekleidung. Vielleicht muss es ja auch nicht unbedingt Mallorca sein, vielleicht wäre Thailand drin? Oder sogar die Karibik? „Dreitausend“, sagt er zu Klein.
„Geht klar“, sagt der Compliance Officer sofort und greift schon zu seinem Telefon, „aber wenn ich mir eine Bemerkung erlauben darf: bei uns fangen die Kredite bei fünf Riesen an, sonst ist der Overhead zu aufwändig. Ich schlage zehn vor, dann haben Sie mehr Spielraum.“ Während er die Beine mehrfach über- und wieder auseinanderschlägt, gibt er leise Anweisungen in sein winzig kleines Handy. Als er die Verbindung trennt, sagt er: „Jetzt haben wir auch einen Slot beim großen Chief! Kommen Sie mit, Herr Schless. Der Umschlag wird währenddessen vorbereitet.“
Als sie aufstehen, verschüttet Schless vor Aufregung ein wenig von seinem kaltgewordenen Latte macchiato, aber das interessiert hier niemanden. Klein hakt ihn unter und beide betreten den Vorstandsaufzug, der sie weiter nach oben in den letzten Stock bringt.
Lukas Meier steht schon an der gepolsterten Tür zu seinem Büro, als Klein und Schless das Vorzimmer betreten. „Ein solcher Glanz in unserer Hütte“, tönt der Vorstandsvorsitzende jovial und strahlt, „kennen Sie das von Benjamin Franklin? ‚Nichts in dieser Welt ist sicher, außer dem Tod und den Steuern‘.“ Er lacht aus vollem Hals und begrüßt Schless mit einer angedeuteten Umarmung und einem kräftigen Schlag auf den Rücken. Klein wird mit einem Wink entlassen.
Schless wird langsam schwindlig, vielleicht vom Hieb auf sein Rückgrat, vielleicht von der Aussicht auf Geld. Während er von Meier ins Büro geführt wird, schaut er auf seine Schuhe und bemerkt, dass er sie lange nicht geputzt hat. Aber zum Schämen hat er keine Zeit, denn der Vorstandsvorsitzende hat bereits angefangen, seine Unternehmensstrategie vor ihm auszubreiten. „Downsizing – never, never ever. Wir wollen als Firma aus dem Silo-Denken ausbrechen, neue Challenges meistern. Change management hilft uns gerade, an die Weltspitze zu kommen. Top of the tops. Natürlich kostet das enorme Ressourcen, das verstehen Sie doch, Schless. Hier und da gibt es Bottlenecks, das räume ich gern ein. Und wenn es da zu Probleme mit Ihrem Hause kommt“ — Meier vermeidet bewusst das Wort Finanzamt — „dann haben wir das in der Vergangenheit doch immer zur beiderseitigen Befriedigung ausräumen können! Win-win-Situationen, immer!“
Schless findet, dass der Sessel, in dem er gerade sitzt, zu den bequemsten gehört, die er je ausprobiert hat. Eigentlich will er gar nicht mehr aufstehen, aber ihm dämmert, dass er sein Blatt lieber nicht überreizen sollte. Also sagt er beherzt: „Herr Meier, ich hätte da, bevor wir ans Werk gehen, eine Frage. Wäre es möglich, dass sich Ihre Firma… Wie soll ich sagen… karitativ betätigt? Ich bin sehr in der Stadtteilarbeit engagiert. Wir hätten da ein Spielplatz-Projekt. Wenn da der Name der MeierCard AG dranstünde, das wäre doch auch in Ihrem Interesse, oder?“ Und dann erfindet Schless schnell ein paar Details: Spielgeräte, einen Springbrunnen mit Bademöglichkeit, einen Kiosk, das Gehalt für Aufsichtspersonal, einen großen Zaun drumherum.
Meier zögert vor Erleichterung keine Sekunde, greift zum Telefon und gibt Anweisungen. „Geht das in cash?“, fragt er Schless zwischendurch. „Aber dann brauchen wir gelegentlich eine Spendenquittung für fünfzigtausend.“
Nach einigen Minuten erhebt sich Meier und macht unmissverständlich klar, dass die Unterredung beendet ist. Er überreicht Schless den Umschlag, den die Sekretärin hereingebracht hat, verabschiedet sich mit den Worten „Frohes Schaffen!“ und „Nicht vergessen: Win-Win-Situationen! Immer!“, und dann schließt sich hinter Schless die Tür zum Büro des allerobersten Entscheidungsträgers der MeierCard AG.
Im Vorzimmer steht Sascha Klein, mit einem Umschlag in der Hand. „Unsere Kernkompetenz, nicht vergessen, Herr Schless. Über die Steuern können wir jederzeit reden, aber wir müssen auch auf der zwischenmenschlichen Ebene harmonieren, nicht wahr.“ Der Umschlag wechselt seinen Besitzer, und schon ist Schless auf dem Weg zum Fahrstuhl, der ihn sanft und geräuschlos hinunter zur Lobby im Erdgeschoss bringt.
Als sich unten angekommen die Lifttüren hinter ihm schließen, bemerkt Schless die attraktive Finanzchefin, die am Empfangstresen auf ihn wartet. „Alexander!“, strahlt sie ihn an und drückt ihm einen Umschlag in die Hand, „für die Kaffeekasse! Und wenn Sie heute Nachmittag mit ihrem Prüfteam kommen, melden Sie sich gleich als allererstes bei mir! Wir werden viel Zeit angenehm miteinander verbringen! Mit Steuerfragen natürlich auch… Aber es gibt ja keine Deadlines, oder?“
Als sich Schless kurzentschlossen zum Ausgang wendet, sieht er, wie sich eine Gruppe von Männern mit verschlossenen Gesichtern und Aktentaschen in der Hand durch die Drehtür drängt. Sie tragen graue und dunkelgrüne Anzüge, und sehen — so fährt es Schless durch den Kopf — eigentlich genau so aus, wie er sich Beamte immer vorgestellt hat.
Viel Spaß, sagt er sich im Stillen, da wartet einiges auf euch.