Der neue Freund

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Eine Geschichte für Jonas Bunjes zu seinem 9. Geburtstag

Simon hatte viele Freunde, mit denen er im Hof Fußball oder Verstecken spielen konnte. Er besuchte manchmal seinen Kumpel Mario zu Hause, um sich die neuen Pokémon-Karten anzuschauen und mit Lego zu bauen. Mario war, wie Simon, auch ein großer Fan von Dinos. Als Dritter kam häufig Benny dazu, dessen Vater bei Kaufhof arbeitete und der deshalb manchmal die neuesten Spielsachen mitbrachte. Also alles super.

In der Schule wurde es jetzt schon schwerer als in den ersten Klassen. In Deutsch sprachen sie gerade über die verschiedenen Textsorten. Eigentlich fiel es Simon nicht schwer, den Unterschied zwischen Beschreibungen und Meinungen herauszufinden. Es machte ihm sogar Spaß, einen Steckbrief zu schreiben — besonders einen Steckbrief, mit denen sein Freund Mario wegen Diebstahl eines Dinos gesucht wurde! Das kam in der Klasse ganz gut an.

Etwas schwieriger als früher wurde es auch beim Rechnen. Auf den Arbeitsblättern standen jetzt Aufgaben wie „62 – 24“ oder „53 + 28“. Bei so großen Zahlen musste man schon nachdenken, besonders wenn man den nächsten Zehner überschritt. Das Addieren fiel Simon leicht. Beim Subtrahieren geriet er manchmal ins Schleudern.

Da traf es sich ganz gut, dass er seit Beginn des neuen Schuljahrs neben Waleri saß. Simon mochte den jungen Ukrainer erst nicht, denn Waleri sprach nur ganz schlecht Deutsch und war deshalb kaum zu einer Unterhaltung über Lego oder Dinos zu gebrauchen. Aber der Vorteil war, dass Waleri ein richtiges Rechengenie war! Simon staunte, dass man in der Ukraine offenbar mit denselben Zahlen rechnete wie in Deutschland. Und in dem Feld war Waleri kaum zu schlagen. Er war immer der erste in der Klasse, der das Arbeitsblatt ausgefüllt hatte. Simon, der im Rechnen eher zu den Langsameren gehörte, bewunderte Waleri deshalb ein bisschen.

Mit der Zeit stellte es sich heraus, dass Simon seinem Nachbarn Waleri zum Beispiel bei der Unterscheidung zwischen einem Fragesatz und einem Befehlssatz gut helfen konnte. Umgekehrt zeigte Waleri seinem Nachbarn Simon, wie man am schnellsten die Aufgabe „62 – 24“ löst, und zwar indem man … Aber das würde hier zu weit führen.

Jedenfalls freundeten sich die beiden nach und nach an. Waleris Deutsch wurde schnell besser, und Simon konnte auch mit großen Zahlen immer perfekter rechnen, Vierecke auf ihre Symmetrie prüfen,  und Meter und Zentimeter zusammenzählen. Irgendwann erzählte Simon in der Schulpause von Lego und Dinos, und Waleri bekam große Augen. Schließlich nahm er Waleri auch zu Mario mit.

Über die Monate wurde Waleri sein bester Freund. Er konnte jetzt viel über seine ukrainische Heimat erzählen. Was hatte er dort nicht alles vor seiner Flucht nach Deutschland erlebt. Simon konnte sich gar nicht richtig vorstellen, wie es ist, wenn ein Nachbarhaus brennt. Oder wenn die ganze Familie die Nacht in einer U-Bahn-Station verbringen muss. Das war spannend. Und gruselig.

So hätte es auch in der nächsten Klasse weitergehen können. Wenn nicht Waleris Mutter zu ihrer Kusine nach München ziehen wollte.

„München – wo liegt das denn?“, fragte Simon seine Eltern.

„Das liegt in Bayern und ist ziemlich weit entfernt. Weiter als Kiel oder Hamburg“, sagte Simons Vater. „Aber es ist auch dort ganz schön, vor allem weil die Alpen ganz nah sind. Und einmal im Jahr gibt es das Oktoberfest, mit riesigen Schiffsschaukeln und einer Achterbahn mit doppeltem Überschlag …“ Vaters Augen leuchteten richtig, als er das erzählte. „Das muss man auch einmal gesehen haben“, sagte er noch. Aber dann sprachen alle beim Abendessen schnell über etwas anderes. Simons Mutter mochte Achterbahnen sowieso nicht.

Als Waleri sich endgültig von seinen Freunden und der Klasse verabschiedete, weil der Umzugstermin gekommen war, musste Simon doch ein wenig schlucken. Das war alles so schade. So gute Kumpel wie Waleri waren selten, fand er. Er schenkte Waleri bei dieser Gelegenheit seinen größten Velociraptor, damit Waleri noch lange an ihn denken sollte. Waleri umarmte erst Simon und dann den Velociraptor, und dann war er fort.

Einige Tage später bekam Simon Post. Waleri hatte wohl mit Hilfe seiner Mutter eine Ansichtspostkarte geschrieben. Auf der Vorderseite sah man eine wunderschöne Bergkette und die Worte „Grüße aus den Alpen“. Auf die Rückseite hatte Waleri einen Gruß geschrieben — und seine neue Telefonnummer!

Das war eine gute Idee, fand Simon. Gleich am Abend rief er in München an und bekam seinen Freund auch gleich an den Apparat. Er erzählte aus der Schule, und was Mario und er am Nachmittag so getrieben hatten.

Waleri erzählte von München, und dass die Leute da so merkwürdig sprechen. Aber die Stadt sei ziemlich cool. „Große Spielwarenabteilung bei Karstadt!“ Das sagte er sogar zwei Mal. Ein Oktoberfest erwähnte Waleri nicht, aber jetzt war ja auch noch Frühjahr.

„Komm mich doch einmal besuchen, Simon!“, sagte der Neu-Münchner am Ende des Gesprächs. „Ist gar nicht so weit! Sechs oder sieben Stunden mit der Bahn!“

Dieser Satz ging Simon noch lange durch den Kopf, nachdem er den Hörer aufgelegt hatte. Erst erzählte er seinen Eltern nichts davon, denn unter Freunden muss man ja auch Geheimnisse hüten können. Aber dann, nach einer Woche, wollte er das Geheimnis nicht länger für sich behalten.

„München ist zu weit, das kann man nicht so einfach an einem Wochenende machen“, sagte sein Vater. Und die Mutter fügte hinzu: „Und die Ferien sind ja noch weit. Außerdem haben wir da ganz andere Pläne, weißt du?“

Welche Pläne das waren, wusste Simon nicht. Aber aufgeben wollte er nicht so schnell. Deshalb sagte er:

„Ihr habt doch selbst gesagt, dass es in München schön ist. Und die Berge auf Waleris Postkarte, die würde ich so gern mal sehen. Und außerdem habt ihr vom Oktoberfest geredet …“

Andere Argumente fielen Simon im Moment nicht ein, aber zur Not könnte er auf die Frage ja später noch einmal zurückkommen. Vater und Mutter schauten sich nur an, sagten aber nichts.

Mehrere Tage vergingen. Simon rief jeden Abend in München an. So erfuhr er, wie Waleri in seiner neuen Schule zurechtkam, mit wem er am Nachmittag abhing und die Spielwarenabteilung bei Karstadt besuchte, und was er in der Stadt entdeckt hatte.

„Ein tolles Museum, sage ich dir“, schwärmte Waleri ihm vor. „Mit Flugzeugen und Raketen, das kannst du dir gar nicht vorstellen. Und Autos und Schiffe. Und du kannst ein richtiges Bergwerk besichtigen! Da stehen auch die riesigen Computer Z3 und Z4, die es vor Tausenden von Jahren mal gab!“ Waleri konnte gar nicht aufhören.

Simon wurde ganz neidisch. Das Deutsche Museum — den Namen konnte er Waleri dann doch entlocken — würde er zu gern einmal selbst besuchen. Er erzählte gleich am Abend seinen Eltern davon. Vielleicht war dies das Argument, mit dem er sie überzeugen konnte.

„Ich kenne das noch von früher,“ sagte der Vater gedankenverloren. „Das soll ja enorm interessant geworden sein.“

Die Mutter schaute erst ein wenig skeptisch drein. Aber dann sagte sie:

„Vielleicht finden wir doch einen Weg …“

Wie es sich herausstellte, waren die Pläne für die Sommerferien noch gar nicht so weit gediehen, wie es den Anschein gehabt hatte. Es war wohl doch möglich, eine Reise nach München zu organisieren.

Simon hätte gar nicht glücklicher sein können. Nicht nur, dass er zum ersten Mal in seinem Leben nach Bayern kam und mit eigenen Augen von der Frauenkirche aus die nahen Alpen sehen konnte. Zusammen mit Waleri besuchten sie alle das Deutsche Museum und blieben dort viele Stunden. Man konnte so viele Apparate selbst bedienen, sich in Flugzeuge und Autos setzen, Filme schauen und, und, und – es nahm gar kein Ende.

Das Schönste aber war natürlich, dass er Waleri wiedersah. Zum Abschied schenkte Waleri ihm das Lego-Set „Harry Potter Schloss Hogwarts“. Und wieder musste Simon schlucken.

Als sie nach ihrem Besuch in München im ICE saßen und nach Hause fuhren, sagte Vater nur: „Das Oktoberfest – das muss wohl bis zum nächsten Besuch warten. Geht ja doch schnell mit der Bahn. Sechs oder sieben Stunden.“ Da war Simon ganz glücklich.