Goethe habe ich in der Schule nie gehabt. Es war ja schon Krieg und dann musste ich an die Front. Deshalb fand ich heute Morgen den „Gedanken zum Tag“ in meinem Blatt so interessant. Da stand, dass der Dichterfürst der Meinung war, der Frühling sei schwierig, weil das Barometer immer so verrücktspielt. Demgegenüber sei der „Herbst immer unsere beste Zeit“, da könne man die „reine Existenz in freier Luft“ erleben.
Oder die freie Existenz in reiner Luft, den genauen Wortlaut erinnere ich schon nicht mehr. Überhaupt kann ich mich an vieles nicht mehr erinnern.
Jedenfalls musste ich an mein ganzes Leben denken, als ich das las.
Meine Frau musste ich vor vielen Jahren begraben, und ich kann mir heute weder ihre Stimme noch ihren Gesichtsausdruck, weder ihre genaue Haarfarbe noch ihr Lächeln ins Gedächtnis zurückrufen. Ich leide nicht darunter. An die Einsamkeit habe ich mich gewöhnt. In meinem Alter leben viele allein, nur mit dem Fernseher und vielleicht gelegentlich den Nachbarn oder dem Arzt als Gesprächspartner. Wenn es an der Haustür klingelt, was selten vorkommt, schrecke ich regelmäßig zusammen. Bevor ich mich aus dem Sessel erheben und zum Türspion schleichen kann, ist der Besucher manchmal schon wieder weg. Nur die Zeugen Jehovas sind hartnäckig und betätigen die Glocke gern zwei- oder dreimal. Die Paketboten sind dagegen längst weitergezogen und haben ihr Päckchen, das sowieso nicht an mich adressiert war, woanders abgelegt. Das gab es früher nicht, glaube ich, dass man sich so viele Sachen nach Hause liefern ließ. Oder höchstens, wenn man vielleicht Generaldirektor oder Konsul war und seine Dienstboten zum Kolonialwarenladen schicken konnte, um eine Bestellung für das Souper zu Ehren der Gattin am nächsten Wochenende aufzugeben.
Ich habe das nie gemacht. Und ich werde in meinem Alter auch nicht mehr die Bedienung dieser neuen Maschinen lernen, mit denen man sich haufenweise Pakete bis vor die Wohnungstür schicken lassen kann.
Meine Enkel haben vor Jahren vorsichtig versucht, mich mit den modernen Apparaturen vertraut zu machen, das ja. Wir haben es nach einigen Versuchen aufgegeben. Diese Welt war nichts für mich. Zu winzige Tasten, zu kleine Buchstaben auf dem Bildschirm, immer ging irgendwo ein neues Fensterchen auf, selbst wenn man gar keinen Schalter betätigt hatte. Auch blieb mir der Sinn des Ganzen immer verborgen. Auf der einen Seite drängt jeder Arzt zu Bewegung an frischer Luft, und dann soll man stattdessen stundenlang am Tisch hocken und nur die Augen anstrengen?
Die Wochen, als Gottfried langsam starb — jetzt muss ich einen Moment nachdenken, in welchem Jahr es genau war —, empfand ich damals, und empfinde ich heute, als einen einzigen Schicksalsschlag. Kein Kind sollte vor den Eltern sterben, das hatte ich selbst immer gepredigt. Er hat sich nicht daran gehalten, der Junge. Ich habe ihm daraus nie einen Vorwurf gemacht, so bin ich nicht. Aber es war doch ungerecht. Selbst wenn ich mich an die genauen Umstände nicht mehr erinnern kann, spüre ich doch manchmal, besonders nach manchen Fernsehprogrammen, noch heute den Schmerz über seinen Tod.
Überhaupt kann ich mit Schmerz nicht gut umgehen. Dazu bin ich vielleicht zu alt. Ich brauche das nicht mehr. In meinem Leben hat es davon schon zu viel gegeben. Körperliches Leiden, vor allem damals im Krieg, als mich der Granatsplitter am Bein traf und ich deshalb mit meinen 17 Jahren nicht mehr zurück an die Front musste. Ich merke den Splitter bei manchen Wetterlagen noch heute. Kann man dagegen etwas tun? Ich müsste einmal meinen Arzt fragen. Vielleicht habe ich das schon getan. Er wird es besser wissen als ich.
Und seelischen Schmerz natürlich noch viel mehr. Ich weiß gar nicht, wo ich mit der Aufzählung anfangen soll. Am schlimmsten war nicht einmal Gottfrieds Tod. Sondern damals der Bruch mit unserer Tochter. Das war so schlimm, dass ich geschworen habe, ihren Namen in diesen Räumen nie mehr auszusprechen. Schluss. Fertig. Die Frau ist es nicht wert, dass man sich an sie erinnert. Ich weiß nicht mal, ob sie noch im Lande wohnt, oder ob sie nicht doch mit irgendeinem ihrer Liebhaber nach Afrika gegangen ist. Kein Wort mehr dazu.
Am zweitschlimmsten war natürlich die Situation im Büro. Jahrelang habe ich gelitten. Es hieß immer Kalle hier, Kalle da. Immer musste Kalle für die anderen arbeiten und deren Kastanien aus dem Feuer holen. Nicht mal meinen richtigen Namen haben sie benutzt. „Karl-Heinz“ war ihnen wohl zu schwierig. Für sie war ich immer nur „Kalle“. Als ich in Rente ging, war das natürlich vorbei. Aber es schmerzt immer noch. Man hat nicht einmal das Recht auf seinen eigenen Namen.
Mehr so im Scherz denke ich immer, dass der Abstieg von Rot-Weiß in die Amateurliga das drittschlimmste war, was ich erlebt habe. Der Verein hat sich davon ja auch nie erholt, seit dreißig Jahren nicht. Oder vierzig jetzt.
Deshalb kann ich bestimmt nicht sagen, dass der Herbst des Lebens die beste Zeit wäre. Da hat sich doch vieles angesammelt, was schwer auf einem lastet. Selbst wenn man gar nicht mehr alle Einzelheiten präsent hat. Eine „reine Existenz“ erlebt man jedenfalls nicht mehr, wie sie dem Dichter vielleicht vorschwebte. Der Zug ist abgefahren.
Manchmal denke ich, dass ich mich am Leben rächen müsste. Ich müsste mal so richtig draufhauen und allen zeigen, dass man mit mir nicht alles machen kann. Die Kollegen, der Verein, das Fräulein Tochter und vielleicht sogar Gottfried würden dann sehen, was sie alles versäumt haben, was sie falsch gemacht haben und wofür sie sich eigentlich in aller Form bei mir entschuldigen müssten.
Mit meinem kaputten Bein kann ich natürlich keine großen Sprünge machen. So viel Energie habe ich schon lange nicht mehr. In Gedanken spiele ich es aber manchmal durch. Was wäre, wenn. Und dann male ich mir Formen der Rache aus, die die Welt noch nicht gesehen hat. Immer nur bei der Briefwahl protestieren, das reicht nicht.
Ich muss noch ein wenig nachdenken.
Hat Goethe das mit „reiner Existenz“ gemeint?
„Reine Luft“ wäre ja schon etwas. Wenn ich die Wohnungstür aufmache, zieht gleich der Mief vom Nachbarn herein. Paul Lobewitz ist Kettenraucher, das hat er mir selbst erzählt. Entsprechend riecht es im Treppenhaus. Lobewitz ist irgendwann aus Polen gekommen, als sie endlich reisen konnten. „Herr Lobewitz“, habe ich mal zu ihm gesagt, „in Polen kann man vielleicht so mit den Nachbarn umgehen, das weiß ich nicht, ich war nie da. Aber hier doch nicht.“ Lobewitz hat nur mit den Schultern gezuckt, „alter Tattergreis“ gemurmelt und ist die Treppe hinuntermarschiert. Die Hausverwaltung habe ich schon mehrfach informiert, aber nichts passiert. Die kümmern sich gar nicht um einen alten Mann wie mich, die denken wahrscheinlich, dass ich die Wohnung sowieso bald freimachen werde. Aus biologischen Gründen. Da warten die nur drauf.
Jetzt fällt mir noch etwas anderes ein. Im Fernsehen haben sie neulich etwas über Frankreich gezeigt. Da brannten Autos und Läden und fast auch ein ganzes Rathaus. Interessante Bilder. Ich weiß nicht, ob es dort immer so zugeht, in Frankreich war ich auch noch nicht. Aber vom Franzosen kann man lernen, wie man sich für all die Verletzungen rächt, die man im Laufe eines Lebens so erlebt.
Goethe hat ja selbst mit dem Franzosen zu tun gehabt, das fällt mir jetzt ein, das haben sie im Fernsehen mal gesagt. Meine Frau hätte das vielleicht gewusst, aber jetzt kann ich sie schon lange nicht mehr fragen.
Also das muss ich sagen — der Herbst ist nicht die beste Zeit im Leben.