Durchbruch

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Susanne aus der Nachbarwohnung hatte ihm der Himmel geschickt. Sie hatte ihm im Supermarkt zugelächelt, sie hatten gemeinsam Kaffee getrunken, und er durfte ihre Hand streicheln. Mehr konnte man vom Leben nicht verlangen, oder?

Das zehnstöckige Hochhaus, in dem beide auf derselben Etage wohnten, hatte man rings um einen Aufzugsschacht errichtet. Im Viereck um den Schacht herum waren auf jeder Etage sechs Wohnungen angeordnet. Um von seiner Wohnung zu der seiner Angebeteten zu gelangen, musste Georg allerdings vorbei am Aufzug den ganzen Weg durch das Karree zurücklegen – eine Ungerechtigkeit, wie er fand.

So entstand die Idee eines Durchbruchs durch die Wand, die beide Wohnungen voneinander trennte.

Als erstes machte sich Georg auf die Suche nach einem Handwerker, der Mörtel und Beton aufstemmen konnte. Basil kam ihm in den Sinn. Er wohnte zwei Stockwerke unter ihm. Basil, abgebrochener Student der Theologie, mit dem er schon manches Glas geleert hatte, schlumpfte durch seinen kaum von Arbeit unterbrochenen Alltag. Aus seiner Wohnung  kamen nicht selten Dämpfe, die schwer an Gras erinnerten.

„Mann, eh, wird locker klar gemacht,“ sagte Basil, als Georg ihn auf den kleinen Auftrag ansprach. „null problemo.“ Aus einer Abstellkammer zauberte Basil umgehend einen großen Hammer, den er wie zur Bekräftigung seiner Absichten heftig schwang. Georg vertröstete ihn auf das kommende Wochenende.

Am Samstag kam Basil eine Stunde später als verabredet. Man öffnete erst einmal zwei Flaschen Bier. Georg hatte bereits die Bilder abgenommen, so dass die Operation an der fraglichen Wand beginnen konnte. Unsicher war sich Georg allerdings über deren genaue Beschaffenheit, und ob Basils Hammer für den angezielten Zweck ausreichen würde.

Bereits nach dem ersten Schlag – der zunächst außer einem hässlichen Fleck nichts weiter bewirkte – klingelte es an der Haustür. Georg öffnete, wobei ihm einfiel, dass er die unmittelbaren Nachbarn besser vorher informiert hätte. Vor ihm stand Frau Grobelmeier aus der Wohnung eine Etage unter seiner.

„Ich glaub ef nicht“, keifte sie in höchsten Tönen, „hat man in diefem schrecklichen Hauf nie feine Ruhe? Genau habe ich gehört, wie Fie an die Wand geklopft haben, um ihr Liebchen auf fich aufmerkfam zu machen, Fie Luftmpf!“ Georg nahm an, dass sie „Haus“ und „Lustmolch“ sagen wollte; ihre lückenhaften Zähne veränderten manche Laute zum Unverständlichen hin.

„Ich bitte Sie ganz herzlich um Verzeihung“, erwiderte Georg, „wir haben hier einen Notfall. Wasserschaden. Wir müssen die Wand kurz aufstemmen, sonst haben Sie auch bald Wasser im Wohnzimmer. Wir beeilen uns, Frau Grobelmeier, großes Pfadfinder-Ehrenwort.“

Die Frau zog grollend ab. Georg eilte zurück und sah, dass Basil sich zur Entspannung gerade einen Joint angezündet hatte und ihn jetzt lächelnd mit den Worten begrüßte:

„Mann, eh, haste Stress? Nimm noch’n Bier, Alter!“ Dann betrachtete er nachdenklich das Werkzeug in seiner Hand und schien zu überlegen, weshalb er eigentlich in diese fremde Wohnung gekommen war. Schließlich riss er sich zusammen, stand auf, nahm Anlauf und bollerte mit dem Hammer gegen die Wand, bei liberaler Sichtweise etwa an der Stelle, an der der erste Schlag ausgeführt worden war. Putz bröckelte auf den Boden. Ein dritter Schlag, dann, nach langer, von tiefen Zügen an Basils Joint unterbrochener Pause, ein vierter. Gefolgt von einem fünften, der allerdings schon deutlich weniger kräftig ausfiel.

„Pause“, erklärte Basil. Er flegelte sich mit seiner staubigen Hose in einen Sessel.

Es klingelte erneut, kräftiger als bei Frau Grobelmeier. Diesmal stand der Hausmeister aus dem Erdgeschoss vor der Tür.

„Ich darf Sie doch herzlich bitten, die Ruhezeiten am Wochenende zu beachten, Herr …“ Georgs Nachname fiel dem guten Mann in der Aufregung nicht ein. Georg war sich auch so sicher, dass er gemeint war.

„Aber klar doch, Herr … , wir sind gleich fertig.“ Auf die Schnelle kam Georg partout nicht auf den Namen des Hausmeisters. Im Hintergrund hörte man einen weiteren Hammerschlag Basils, der die Pause beendet hatte. Zum Hausmeister sagte Georg:

„Nur noch ein paar Minuten, Herr …. Wir hängen Bilder auf, Sie wissen schon.“

Ob der Hausmeister jemals Bilder aufgehängt hatte, blieb offen, denn der Mann zog wortlos und unter Grimassen ab. Georg schloss die Tür und eilte zu seinem Handwerker, der sich mittlerweile zu einer weiteren Pause gesetzt hatte.

„Mann, eh, wahrscheinlich ‘n Atombunker dahinter.“ Basil seufzte. „Bin sowieso Pazifist.“ Er klopfte sich den Staub vom Ärmel. Georg versuchte vergeblich, den logischen Zusammenhang zwischen beiden Aussagen zu erkennen. Bevor er nachfragen konnte, klingelte das Telefon.

Der Mann am Ende der Leitung stellte sich als „Bauamt, Notdienst, Dobelmann“ vor und fragte Georg, was in seiner Wohnung vorgehe; das Amt sei gerade darauf hingewiesen worden, dass jemand im Begriff sei, die Substanz des Hauses zu beschädigen. Wenn das zuträfe, sagte Dobelmann, dann wäre es eine schwere Straftat und das Amt müsste sofort einschreiten.

„Herr Dobermann“, antwortete Georg – „Dobelmann“, unterbrach ihn Dobelmann – „Herr Dobelmann,“ setzte Georg erneut an, „wir spielen Karten und klopfen manchmal vielleicht etwas laut auf den Tisch. Mehr ist es nicht, ehrlich!“  

Aus dem Wohnzimmer waren zwei Hammerschläge und Basils Stimme zu vernehmen:

„Mann eh, wissen wir eigentlich, was auf der anderen Seite ist?“

„Unser Spielpartner plant gerade eine Weltreise“, sagte Georg entschuldigend ins Telefon.

„Das scheint mir aber mehr zu sein als ein Kartenspiel,“ sagte Dobelmann skeptisch. „Passen Sie auf, dass Sie sich nicht ins Unrecht setzen, Herr …“

Das Gespräch mit dem Bauamt wurde von erneutem Klingeln an seiner Haustür unterbrochen. Georg spurtete zur Tür. Frau Grobelmeier war zum zweiten Mal zu ihm heraufgestürmt, diesmal in finaler Kampflaune:

„Waf fällt Ihnen ein,“ keifte sie, die Hände in die Seiten gestemmt. Gerade wollte sie ihr Donnerwetter loswerden, als sie den sonderbaren Geruch bemerkte, der aus Georgs Wohnung ins Treppenhaus drang. „Fie Drogensüfftiger, Fie …“ Bodenlose Entrüstung verschlug ihr die Sprache.

Das ließ Georg Zeit, sich von Herrn Dobelmann mit dem Versprechen absoluter Gesetzestreue zu verabschieden. Nie würde es ihm einfallen, sagte er, die Substanz … Dobelmann hatte bereits aufgelegt.

Während Frau Grobelmeier im Hausflur weiter nach Worten rang, waren aus dem Wohnzimmer Schmerzenslaute und heftige Flüche zu vernehmen. Basil hatte sich den Hammer auf den Fuß fallen lassen. Georg ließ die Wohnungstür offen und eilte zu ihm. Er versuchte sich zu erinnern, wohin er seinen nie benutzten Verbandskasten verlegt hatte. War er als Auftraggeber nicht für die Gesundheit seiner Arbeiter verantwortlich? Er sah Schadensersatzforderungen auf sich zukommen, wenn er Basil nicht umgehend medizinisch versorgte.

In dem Moment vernahm er Geräusche aus dem Hausflur. Frau Grobelmeier hatte offenbar ihre Sprache wiedergefunden und befand sich jetzt in einer aufgeregten Unterhaltung mit einer weiteren Person, die hinzugekommen war. „Hat man Worte“, war Grobelmeiers Keifen zu hören, „hier wird am Famftag die Wand aufgeffemmt und Cannabif konfumiert!“

Georg fragte sich, ob es für den Genuss von Haschisch jetzt auch Vorgaben für erlaubte Wochentage gab. Dann eilte er zurück zur Wohnungstür. Neben der streitbaren Frau Grobelmeier stand – die angebetete Susanne.

„Hallo“, sagte er.

„Hallo“, sagte sie und lächelte, „hier ist ja ‘was los.“

„Schon vorbei“, beeilte sich Georg zu sagen, „nicht der Rede wert. Basil hat sich verletzt. Wir brechen ab.“

Dann nahm er Susanne in den Arm und schlug Frau Grobelmeier die Tür vor der Nase zu. Bis auf Weiteres würde er den langen Weg durch den Hausflur nehmen.