Zeitlos

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Er ist froh, dass er an diesem Wochenende Zeit hat. Natürlich muss man damit verantwortungsvoll umgehen, die Zeit nicht verplempern, nicht in den Tag hinein leben. So protestantisch ist er dann doch noch. Nach dem Ausflug zum ehemaligen Bergwerk müsste er mal nachsehen, woher das schöne Wort „verplempern“ kommt.

Bald nachdem er die Autobahn erreicht hat, kommt das Fördergerüst der einst weltgrößten Steinkohlenzeche in Sicht. Es ragt vierbeinig und rostbraun fünfzig Meter hoch in den Himmel über der Ruhr. Eine majestätische, elegante, luftige Konstruktion, die ihn von Weitem an den Eiffelturm erinnert.

Er bucht sich am Eingang der riesigen Anlage eine Tour, weil er neugierig ist und vom Bergbau praktisch nichts versteht.

Zur angegebenen Uhrzeit schart der Tourleiter die kleine Gruppe um sich, überprüft die weißen Handgelenkbändchen, die bei der Buchung übergeben wurden, und stellt sich vor. Die Begrüßung ist launig und schafft sofort eine gute Stimmung.

Als erstes werden die Besucher zum etwas abseitsstehenden Modell der Zeche geführt. Dort fasst der Leiter in wenigen Daten die kaum 140 Jahre umfassende Geschichte der Anlage zusammen. Er erzählt anschaulich von Kohlenwäsche und Kokerei, von Maschinen- und Kellerbühnen, Umformern und Ablenkscheiben, von Zweiseilförderung und Teufenstandszeigern. Der schmächtige Mann, der sicherlich nie unter Tage gearbeitet hat, erklärt, in welchen Formen Kohle in den Handel kommt. Wie viele Tonnen hier jeden Tag gefördert wurden. Wie die Flöze unter dem Ruhrgebiet liegen und wie viele Menschen hier in Lohn und Brot standen, als die Schachtanlagen noch in vollem Betrieb waren.

Die Besucher machen Oh und Ah, als sie die Zahlen hören.

Jetzt, sagt der Schmächtige mit Stolz in der Stimme, jetzt sei es gelungen, dieses einzigartige Industriedenkmal nicht nur in großen Teilen zu erhalten, sondern auch global bekannt zu machen. Die Zeche mit ihren imposanten Anlagen, den modernen Ausstellungen und den Firmenansiedlungen sei zu einem touristischen Anziehungspunkt weit über die Region hinaus geworden. Dank der UNESCO sei man anerkannter Teil des kulturellen Erbes der gesamten Menschheit.

Er schaut auf den Redner und denkt darüber nach, was das bedeutet. Was alles zum kulturellen Welterbe gehören mag. Das Faxgerät, das bei ihm schon lange verstaubt? Die Heißmangeln, die es in seiner Kinderzeit noch an jeder Straßenecke gab? Goethes Schreibfedern und Schillers Spucknapf? Die Eintrittskarten zu Shakespeares Globe Theatre? Die Splitter aus Noahs Arche? Er verliert sich in Fantasien.

Die Gruppe ist unterdessen weitergegangen. Der Führer erzählt etwas über die Arbeitsbedingungen der Kumpel, die selbst nach dem Krieg noch unfassbar schwere Arbeit leisteten. Unter Tage mit Presslufthämmern, häufig in fünfzig Zentimetern hohen, staubgesättigten, heißen Gängen. Oder über Tage neben den Förderwagen, Transportbändern und Maschinen, die unablässig kreischten und stampften und einen infernalischen Lärm machten.

Die Besucherschar ist tief beeindruckt. Auf den Gesichtern ist die Erleichterung darüber  abzulesen, dass sich die Anwesenden mit ihren Schreibtischjobs diese Strapazen nicht antun müssen. Modernes Gruseltheater, denkt er. Es gehört zum Programm, uns Schauer über den Rücken zu jagen. Aber gut, so war es eben, Schweiß und Schmerzen gehören ja auch zum Weltkulturerbe. Und die Bedingungen in vielen Gruben dieser Welt sind heute wahrscheinlich nicht wesentlich anders als damals. Unserem Stahl sieht man es nicht an, wie teuer er erkauft ist.

Während die Gruppe stehen bleibt, um sich die Prinzipien der Kohlenwäsche erklären zu lassen, blättert er in dem bunten Magazin, das am Eingang für alle Interessierten bereitlag. Aha, denkt er, als er den Leitartikel aufschlägt und die Überschrift liest: „Zeitloses Welterbe“. Klingt gut. Ein  vielleicht ein bisschen überzogener Anspruch, findet er. Was ist schon zeitlos auf dieser Erde.

Die Besucher lachen, und er weiß nicht genau worüber, denn einen Moment lang war er mit seinen Gedanken woanders. Jetzt erzählt der Fachmann vorne über die Sprache der Kumpel. „Viele der Begriffe, die sich hier in der Grube entwickelt haben, sind in unseren Wortschatz eingegangen“, sagt der schmächtige Mann und erwähnt die „Schicht im Schacht“ und den Raubbau, „zappenduster“, das Kerbholz und den Kawenzmann. Ja, fügt der Tourleiter dann noch hinzu, selbst der Ausdruck „weg vom Fenster“ sei nichts anderes als die Umschreibung des Todes von Bergleuten, die ihrer Steinstaublunge wegen immer am offenen Fenster stehen mussten, um überhaupt atmen zu können. Und wenn sie dort nicht mehr standen, war es vorbei.

Die Zuhörer schauen betroffen. Sie überprüfen innerlich ihren Wortschatz.

Man geht wieder weiter. Als die Gruppe stehenbleibt, wird das Thema gewechselt, weil einer der Besucher wissen will, was mit den aufgegebenen Schächten passiert. Ob sie einstürzen und  Erdbeben auslösen könnten. Der Angesprochene bejaht das und erwähnt, dass die gesamte Region schon um durchschnittlich zwölf Meter abgesackt sei. Nicht wenige Flüsse habe man schon umleiten müssen, weil deren Gefälle nicht mehr ausreichte. Wasser sei überhaupt ein größeres Problem des Tiefbergbaus, fährt er fort. Um die Schächte trocken zu halten, müsse man das ständig nachdrängende Wasser an die Oberfläche pumpen. Wegen der Schadstoffe im Grubenwasser habe man in jüngerer Zeit auch zunehmend darauf geachtet, dass es nicht zu einer Vermischung mit Grund- und Trinkwasser komme. Das war, sagt der Tourleiter, eine wachsende Herausforderung, je tiefer man die Schächte trieb. Heute stabilisiert das Wasser die aufgelassenen Schächte, aber höher als bis 600 Meter unter der Oberfläche darf der Spiegel auch nicht steigen.

„Eine Ewigkeitsverantwortung“, fügt der Touristenführer gelassen hinzu. „Das Abpumpen muss auf ewig gewährleistet sein. Sonst wird das Ruhrgebiet unbewohnbar.“

Er schaut den Vortragenden verständnislos an. Ewigkeitsverantwortung? Er fragt sich, wie ernst das Wort gemeint ist. Wirklich für die Ewigkeit?

Ist es das, was „zeitloses Welterbe“ bedeutet?

Er spürt Grauen in sich aufsteigen, als er sich klarmacht, was alles passieren kann. Dass es in der Geschichte der Menschheit noch nie etwas Ewiges gab. Er findet, dass schon der Anspruch darauf vermessen ist. Blasphemisch fast. Noch nie ist es gelungen, sich die endlose Zukunft auch nur gedanklich vorzustellen.

Irgendwie hat Verantwortung mit Antworten zu tun, und Antworten setzen voraus, dass jemand fragt. Was ist, wenn keiner mehr zu fragen wagt? Wenn keiner mehr da ist, um zu fragen? Es soll ja vorkommen, dass Pumpen versagen. Oder dass keine Ersatzteile mehr beschafft werden können. Oder der Klimawandel verschärft das Problem, der Meeresspiegel steigt — was dann? Nicht einmal das vermag man zu denken.

Die Tour kommt an ihr Ende. Der Leiter erklärt noch kurz die Kokerei, die sich wie ein gigantischer rostbrauner Riegel quer über den Horizont erstreckt. Das sei aber eine andere Führung, die könne man gern zusätzlich buchen, sagt er mit einem Augenzwinkern. Dort drüben gebe es auch gute Restaurants und einen Shop …

Applaus für den fachkundigen Redner brandet kurz auf, dann zerstreut sich schnell die Schar der Besucher.

Er hört schon länger nicht mehr hin. Er ist mit dem Gedanken an die Ewigkeit beschäftigt. Am Morgen hatte er noch befürchtet, seine kostbare Zeit verantwortungslos zu verplempern. Aber angesichts der Hybris dieses Ortes jetzt kommt ihm jetzt alles banal vor. Verantwortung hat einen anderen Sinn bekommen, eine andere Dringlichkeit, eine größere Tragweite. Er fühlt sich klein und unbedeutend.

Er geht zum Parkplatz und besteigt sein Auto. Ein Stahlgehäuse, das ohne Steinkohle nicht zustande gekommen sein dürfte. Das wirft ja noch ganz andere Verantwortungsfragen auf, denkt er, und dreht den Zündschlüssel.