Als er noch regelmäßig in die Redaktion ging, las er jeden Morgen beim Frühstückstisch wortlos die Lokalzeitung. Die Frau saß ihm stets gegenüber und machte sich dunkle Gedanken über die Ehe. Vielleicht bot das Frühstück sowieso keine gute Gelegenheit, mit ihrem Gemahl ein Gespräch anzufangen, fand sie damals. Er war halt ein beschäftigter Mann.
Die Dinge änderten sich, nachdem er sich zur Ruhe gesetzt hatte. Zunächst dauerte es morgens wesentlich länger, bis er jede Seite der Zeitung studiert hatte. Dann, nach einigen Monaten, gewöhnte er es sich an, schon beim Kaffee das tägliche Kreuzworträtsel zu lösen. Die Frau nahm es hin, auch wenn sie der Meinung war, dass er jetzt, wo es keine nennenswerten beruflichen Verpflichtungen mehr gab, ruhig einmal aufblicken und ein Wort an sie richten konnte. Er tat es nie, und das erbitterte sie mehr und mehr.
Zwei Jahre später stürzte der Mann und erlitt eine seltene Form der Lähmung. Er konnte nur mit Mühe seine Beine bewegen, die Arme versagten ihm aber völlig den Dienst und das Sprechen fiel ihm schwer. Die Frau gehörte zu den wenigen Menschen, die einigermaßen verstanden, was er zu sagen versuchte.
Seine morgendliche Zeitungslektüre wurde damit erheblich schwieriger. Zuerst setzte sich die Frau neben ihn an den Frühstückstisch und breitete die Zeitung so vor ihm aus, dass er selbst lesen konnte. Sie blätterte die Seiten um, sobald er einen undeutlichen Laut von sich gab. Auf das Kreuzworträtsel musste er verzichten. Auch ein Hin- und Herblättern wie früher war ausgeschlossen. Ebenso konnte er nicht zuerst den Sportteil, dann das Feuilleton und dann erst die politischen Aufmacher studieren. Die Frau hing grundsätzlich der Überzeugung an, dass man eine Zeitung von vorn nach hinten zu lesen habe. Also machte sie sich auch nicht mehr Arbeit als nötig.
Bald darauf bekam er schwere Probleme mit seinem Augenlicht. Sein Geist war noch wach, vermutete sie. Aber Lesen kam nicht mehr in Frage. Er forderte die Frau umständlich auf, ihm morgens wenigstens ein paar Artikel aus der Zeitung vorzulesen. Sie fand diese Bitte unbescheiden, und so beschränkte sie sich auf drei, höchstens vier kleine oder mittellange Artikel pro Tag. Danach teilte sie ihm jeweils unmissverständlich mit, dass sie dringende Hausarbeit zu verrichten habe. Er musste es akzeptieren.
Sie wusste hinterher gar nicht mehr, wer oder was sie auf die Idee gebracht hatte, oder wann ihr Entschluss gereift war. Nach einigem Suchen wurde sie schließlich in einem dämmrigen Laden am Bahnhof fündig und kaufte nach wochenlangem Zögern die Maschine. Sie erschien ihr etwas teuer, aber sie diente ja einem guten Zweck. Die Bedienung erwies sich als umständlich, zumal die Frau mit Apparaten dieser Art keinerlei Erfahrung hatte; sie konnte nicht einmal einen Computer bedienen.
Geschweige denn eine Raschelmaschine.
Es erwies sich allerdings, dass der kleine Kasten durchaus funktionierte. Sie stellte die Maschine jeden Morgen neben sich auf den Frühstückstisch, bediente den einzigen Knopf und freute sich über das Geräusch, das aus dem Lautsprecher drang. Ein unregelmäßiges, geheimnisvolles Rascheln. Wie beim Hantieren mit einer Zeitung.
Der Mann schien zufrieden, dass sich die Frau offenbar intensiv mit dem Inhalt der Zeitung auseinandersetzte. Gelegentlich unterbrach sie das Geräusch, um ihm aufs Geratewohl einen oder zwei kurze Artikel vorzulesen. Dann teilte sie ihm mit, dass es heute keine weiteren interessanten Berichte gebe und sie eh einkaufen müsse. Der Mann konnte ihr nicht mehr widersprechen.
Einige Monate ging es gut, bis sie fand, dass es reichte, zumal sie den Eindruck hatte, dass der Mann im Kopf nicht mehr gut funktionierte. Das war der Tag, als sie am Frühstückstisch die Raschelmaschine anmachte — und nichts vorlas. Sie gab keine weitere Erklärung ab. Der Mann genoss offenbar bereits das Gefühl, einer Zeitung nahe zu sein. Bestimmt hatte er sowieso das Interesse an der Welt verloren.
Das neue Ritual hielt ein paar Wochen: sie setzte ihren Mann an den Frühstückstisch, reichte ihm das Essen und ließ anschließend den Apparat zehn Minuten lang seine Arbeit verrichten. In dieser Zeit fiel zwischen ihnen schon kein Wort mehr. Nur das Rascheln war noch da.
Dann kam der Punkt, an dem der Mann nicht mehr das Bett verlassen konnte. Sie stellte die Maschine in sein Schlafzimmer. Der Apparat raschelte praktisch den ganzen Tag lang und meist auch in der Nacht, was nach Auskunft des Arztes eine beruhigende Wirkung auf den Patienten hatte.
Als der Mann starb, machte die Frau kein großes Aufheben. Der Sarg gehörte zu den preiswerteren. Auf die Bewirtung einer Trauergesellschaft und eine Anzeige in der Zeitung verzichtete sie ganz. Aber sie versicherte sich bei dem Priester, der die Aussegnung vornehmen sollte, dass man durchaus eine kleine Maschine mitbeerdigen kann, ohne die Gesetze der Schicklichkeit oder der Kirche zu verletzen.