Raumgleiter

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Durch die Frontscheibe seines parkenden Autos sah er auf der gegenüberliegenden Straßenseite die grün und rot gekleidete Frau, wie sie der Hausecke und dem Marktplatz entgegeneilte. In der Rechten trug sie einen aufgespannten Regenschirm, was sie einige Mühe kosten musste, denn der Wind hatte aufgefrischt und rüttelte den Schirm hin und her. Unter den linken Arm hatte sie eine große Ledertasche geklemmt, die mit einem Logo verziert war, das ihm bekannt vorkam. Vielleicht, mutmaßte er, kam sie gerade vom Arzt und musste jetzt ihren Sohn vom Kindergarten abholen. Oder so: sie war auf dem Weg zu einer wichtigen Verabredung, möglicherweise mit einem Rechtsanwalt oder ihrem Steuerberater, und fürchtete jetzt, zu spät zu kommen und dadurch eine wichtige amtliche Frist zu versäumen. Oder aber sie versuchte, einem noch unsichtbaren Verfolger zu entkommen, vielleicht ihrem Ex, der sich in den letzten Wochen zu einem gefährlichen Stalker entwickelt hatte, was der Polizei, die sie natürlich schon aufgesucht hatte, völlig egal zu sein schien.

Im einfachsten Fall allerdings verspürt sie nur Hunger und will nach Hause, dachte er enttäuscht.

Er malte sich aus, was wohl in ihrer Tasche verborgen war. Akten aus dem Büro, die sie heute Abend noch zu bearbeiten hatte? Oder Zeitschriften, die sie vor dem Fernseher, dem sie gewöhnlich nur ihre halbe Aufmerksamkeit schenkte, durchblättern wollte. Oder aber sie hatte die Einkäufe dort hineingestopft, die sie auf die Schnelle gerade in einer Boutique auf der Hauptstraße getätigt hatte, denkbar zum Beispiel: ein neuer Badeanzug oder ein Seidenschal. Eine vornehme Bluse würde man wohl trotz des Regens nicht in diese Tasche hineinstopfen.

Wie alt mochte die Frau sein? Fünfundvierzig? Fünfzig? Ein Kind der Kohl-Ära, rechnete er aus. Sie musste die deutsche Teilung noch erlebt haben. Vielleicht aber auch nicht; vielleicht war sie mit ihren Eltern erst später ins Land gekommen, aus Jugoslawien oder aus Russland oder Tadschikistan, wo man in den Schulen der jüngeren deutschen Geschichte wahrscheinlich nur mäßiges Interesse entgegenbrachte.

Jedenfalls, das war ja mit bloßem Auge zu sehen, eilte sie unbeirrt von A nach B, von einem Raum zu einem anderen. Banal, sagte er sich. Während er bewegungslos und mit oberflächlichen Beobachtungen beschäftigt im Auto saß, drehte sich die Welt draußen einfach weiter.

Er schaltete kurz die Zündung ein und betätigte einmal den Scheibenwischer, um das Geschehen auf der Straße besser überblicken zu können.

Die Frau erreichte gerade die Häuserecke, als einige Meter hinter ihr ein älterer Mann, ohne Schirm und nur mit einem T-Shirt bekleidet, aus dem Eingang trat. Schau an, der Stalker. Oder — nein, dachte er, der bringt wahrscheinlich nur seinen Abfall zu den Mülltonnen und sieht zu, dass er schleunigst wieder ins Trockene kommt. Von A nach B und zurück nach A. Kaum Raumgewinn, ging es ihm durch den Kopf, eher ein kurzer Rundgang, den der Alte wahrscheinlich schon tausendmal zurückgelegt hatte und dem er deshalb keine weitere Beachtung schenkte.

Ein Fehler, dachte er in seinem stillen Auto. Wir bewegen uns achtlos durch den Raum, als würden wir alles kennen. Dabei ändern sich ständig die Umstände. Nie steigt man in denselben Fluss. Panta rhei, wenn er es noch richtig erinnert. Selbst der Weg zu den Mülltonnen ist jedes Mal anders. Aber dazu müsste man die Augen offenhalten, und nicht wie der Alte —

Was war das? Der alte Mann, der — wie jetzt klar wurde — weder eine Mülltüte noch einen Schirm in der Hand hielt, sondern sich in seinem leicht angegrauten Shirt sorglos dem Regen und Wind aussetzte, strebte nach rechts der nächsten Straßenecke entgegen. Also doch jemand auf der Durchreise zu einem neuen Raum, dachte er. Vielleicht geht er kurz raus, um Zigaretten zu holen. Oder zum Discounter, um sich ein Tiefkühlschnitzel zu besorgen, oder Käse-Scheibletten und ein Glas Gewürzgurken. Was man in dem Alter so isst, dachte er. Ein Fall für die Volksgesundheit. Zu einem Date wird er in seinem Alter und mit seinem Outfit wohl kaum unterwegs sein. Geht man heutzutage in dieser Aufmachung in seine Stammkneipe, um ein Feierabendbier zu genießen? Früher war das wohl denkbar — aber in diesen Zeiten, in dieser Stadt?

Wieder musste er kurz die Zündung einschalten, um den Scheibenwischer einmal zu betätigen, damit er nichts verpasste.

Der Alte war um die Straßenecke verschwunden. Stattdessen kamen jetzt zwei Schülerinnen in den Blick. Er nahm jedenfalls an, dass sie Schülerinnen waren, denn beide trugen schwere Taschen, in denen sich sehr wohl zahllose abgegriffene und mit handschriftlichen Anmerkungen versehene Schulbücher verbergen konnten. Die beiden Mädchen waren sicher froh, dass sie endlich die Räume ihrer „Bildungsanstalt“ für heute verlassen konnten, so zügig, wie sie in ihren knallbunten Regenjacken den Bürgersteig entlangliefen. Natürlich Richtung Mutter und Vater, wenn es sie denn gab. Ist heutzutage keineswegs selbstverständlich, eine intakte vollständige Familie, das weiß jeder Zeitungsleser.

Zeitungsleser gibt es heute auch nicht mehr so viele wie früher, dachte er gerade, als er den Alten mit einer Tüte in der Hand zurückkommen sah.

Schau an, doch nicht die Stammkneipe. Vielleicht hat der Mann kein „zweites Wohnzimmer mit Tresen“, wie er einmal gelesen hatte. Vielleicht hat der Alte die Anweisung, sofort wieder zu Muttern zurückzukommen, sobald er die Einkäufe erledigt hat. Auch nur ein Weg von A nach B nach A.

Vielleicht braucht Muttern die Käse-Scheibletten für einen Toast Hawaii.

Der Regen trommelte auf das Autodach, als ihm einfiel, dass Toast Hawaii längst aus der Mode gekommen war.

Die Mädchen waren verschwunden und der Alte hatte das Haus bereits betreten, als ein schwerer, schwarzer Wagen am Parkplatz vorbeirauschte. Die Reifen spritzten Wasser von der Straße und nässten den schmalen Streifen Erde, der um den kümmerlichen Baum dort drüben noch verblieben war. Dreißig Ka-Em-Ha sehen anders aus, dachte er, aber manche glauben ja, dass sie sich alles erlauben können. Der ist auch auf der Durchreise irgendwohin. Vielleicht nur ins Fitnesscenter hundert Meter weiter. Aber vielleicht will der ja auch nach Berlin fahren, kann sein, für wichtige Geschäfte oder weil er endlich einmal seine Mitarbeiter zusammenstauchen will, die er sonst nur klein auf dem Bildschirm im Home-Office sieht. Einmal gemeinsam denselben Raum teilen, in natürlicher Größe, das soll ja für viele Menschen eine ganz neue Erfahrung sein.

Was kann man da machen, ging es ihm durch den Kopf. Vielleicht einfach mal neue Räume anbieten. Die Schülerinnen mit Toast Hawaii in den schwarzen Wagen setzen und sehen, was dabei herauskommt – wahrscheinlich eine Katastrophe, so jung wie sie sind, die Fahrt dürfte am nächsten Baum oder in einer Ladenfront enden. Jede Menge Pe-Es, nichts für schwache Nerven. Ka-We heißt das jetzt, pardon.

Den Alten könnte man in die Boutique versetzen. Die Verkäuferinnen, so stellte er es sich vor, würden erst einmal die Nase rümpfen und dem unerwarteten neuen Kunden zuerst ein Handtuch reichen. Und dann würden sie ihm alles Mögliche anzudrehen versuchen, ein schickes, eigentlich für Damen geschneidertes Hemd, einen schwarzen Businessanzug für die Frau von heute, und weil es so gut für die Umsatzzahlen ist: ein nettes Parfum. Dem Alten würde schwindlig werden und er würde vielleicht zum ersten Mal in seinem langen Leben an einen Rechtsanwalt denken.

Und die rot und grün gekleidete Frau — für sie passten die Räume der Schule. Sie könnte eine nette Lehrerin sein. Sie hätte dann immer pünktlich Feierabend und dürfte jeden Tag um diese Zeit nach Hause eilen, oder zum Kindergarten oder ihrem Steuerberater. Keine Frist müsste sie mehr versäumen. In der Schule wäre sie auch vor ihrem stalkenden Ex sicher. Er seufzte. Dann schaltete er die Zündung ein und startete den Motor. Er musste los. Kein Kopfkino mehr. Seine Raumpflegerin würde bald vor der Tür stehen.

Durch die Frontscheibe seines parkenden Autos sah er auf der gegenüberliegenden Straßenseite die grün und rot gekleidete Frau, wie sie der Hausecke und dem Marktplatz entgegeneilte. In der Rechten trug sie einen aufgespannten Regenschirm, was sie einige Mühe kosten musste, denn der Wind hatte aufgefrischt und rüttelte den Schirm hin und her. Unter den linken Arm hatte sie eine große Ledertasche geklemmt, die mit einem Logo verziert war, das ihm bekannt vorkam. Vielleicht, mutmaßte er, kam sie gerade vom Arzt und musste jetzt ihren Sohn vom Kindergarten abholen. Oder so: sie war auf dem Weg zu einer wichtigen Verabredung, möglicherweise mit einem Rechtsanwalt oder ihrem Steuerberater, und fürchtete jetzt, zu spät zu kommen und dadurch eine wichtige amtliche Frist zu versäumen. Oder aber sie versuchte, einem noch unsichtbaren Verfolger zu entkommen, vielleicht ihrem Ex, der sich in den letzten Wochen zu einem gefährlichen Stalker entwickelt hatte, was der Polizei, die sie natürlich schon aufgesucht hatte, völlig egal zu sein schien.

Im einfachsten Fall allerdings verspürt sie nur Hunger und will nach Hause, dachte er enttäuscht.

Er malte sich aus, was wohl in ihrer Tasche verborgen war. Akten aus dem Büro, die sie heute Abend noch zu bearbeiten hatte? Oder Zeitschriften, die sie vor dem Fernseher, dem sie gewöhnlich nur ihre halbe Aufmerksamkeit schenkte, durchblättern wollte. Oder aber sie hatte die Einkäufe dort hineingestopft, die sie auf die Schnelle gerade in einer Boutique auf der Hauptstraße getätigt hatte, denkbar zum Beispiel: ein neuer Badeanzug oder ein Seidenschal. Eine vornehme Bluse würde man wohl trotz des Regens nicht in diese Tasche hineinstopfen.

Wie alt mochte die Frau sein? Fünfundvierzig? Fünfzig? Ein Kind der Kohl-Ära, rechnete er aus. Sie musste die deutsche Teilung noch erlebt haben. Vielleicht aber auch nicht; vielleicht war sie mit ihren Eltern erst später ins Land gekommen, aus Jugoslawien oder aus Russland oder Tadschikistan, wo man in den Schulen der jüngeren deutschen Geschichte wahrscheinlich nur mäßiges Interesse entgegenbrachte.

Jedenfalls, das war ja mit bloßem Auge zu sehen, eilte sie unbeirrt von A nach B, von einem Raum zu einem anderen. Banal, sagte er sich. Während er bewegungslos und mit oberflächlichen Beobachtungen beschäftigt im Auto saß, drehte sich die Welt draußen einfach weiter.

Er schaltete kurz die Zündung ein und betätigte einmal den Scheibenwischer, um das Geschehen auf der Straße besser überblicken zu können.

Die Frau erreichte gerade die Häuserecke, als einige Meter hinter ihr ein älterer Mann, ohne Schirm und nur mit einem T-Shirt bekleidet, aus dem Eingang trat. Schau an, der Stalker. Oder — nein, dachte er, der bringt wahrscheinlich nur seinen Abfall zu den Mülltonnen und sieht zu, dass er schleunigst wieder ins Trockene kommt. Von A nach B und zurück nach A. Kaum Raumgewinn, ging es ihm durch den Kopf, eher ein kurzer Rundgang, den der Alte wahrscheinlich schon tausendmal zurückgelegt hatte und dem er deshalb keine weitere Beachtung schenkte.

Ein Fehler, dachte er in seinem stillen Auto. Wir bewegen uns achtlos durch den Raum, als würden wir alles kennen. Dabei ändern sich ständig die Umstände. Nie steigt man in denselben Fluss. Panta rhei, wenn er es noch richtig erinnert. Selbst der Weg zu den Mülltonnen ist jedes Mal anders. Aber dazu müsste man die Augen offenhalten, und nicht wie der Alte —

Was war das? Der alte Mann, der — wie jetzt klar wurde — weder eine Mülltüte noch einen Schirm in der Hand hielt, sondern sich in seinem leicht angegrauten Shirt sorglos dem Regen und Wind aussetzte, strebte nach rechts der nächsten Straßenecke entgegen. Also doch jemand auf der Durchreise zu einem neuen Raum, dachte er. Vielleicht geht er kurz raus, um Zigaretten zu holen. Oder zum Discounter, um sich ein Tiefkühlschnitzel zu besorgen, oder Käse-Scheibletten und ein Glas Gewürzgurken. Was man in dem Alter so isst, dachte er. Ein Fall für die Volksgesundheit. Zu einem Date wird er in seinem Alter und mit seinem Outfit wohl kaum unterwegs sein. Geht man heutzutage in dieser Aufmachung in seine Stammkneipe, um ein Feierabendbier zu genießen? Früher war das wohl denkbar — aber in diesen Zeiten, in dieser Stadt?

Wieder musste er kurz die Zündung einschalten, um den Scheibenwischer einmal zu betätigen, damit er nichts verpasste.

Der Alte war um die Straßenecke verschwunden. Stattdessen kamen jetzt zwei Schülerinnen in den Blick. Er nahm jedenfalls an, dass sie Schülerinnen waren, denn beide trugen schwere Taschen, in denen sich sehr wohl zahllose abgegriffene und mit handschriftlichen Anmerkungen versehene Schulbücher verbergen konnten. Die beiden Mädchen waren sicher froh, dass sie endlich die Räume ihrer „Bildungsanstalt“ für heute verlassen konnten, so zügig, wie sie in ihren knallbunten Regenjacken den Bürgersteig entlangliefen. Natürlich Richtung Mutter und Vater, wenn es sie denn gab. Ist heutzutage keineswegs selbstverständlich, eine intakte vollständige Familie, das weiß jeder Zeitungsleser.

Zeitungsleser gibt es heute auch nicht mehr so viele wie früher, dachte er gerade, als er den Alten mit einer Tüte in der Hand zurückkommen sah.

Schau an, doch nicht die Stammkneipe. Vielleicht hat der Mann kein „zweites Wohnzimmer mit Tresen“, wie er einmal gelesen hatte. Vielleicht hat der Alte die Anweisung, sofort wieder zu Muttern zurückzukommen, sobald er die Einkäufe erledigt hat. Auch nur ein Weg von A nach B nach A.

Vielleicht braucht Muttern die Käse-Scheibletten für einen Toast Hawaii.

Der Regen trommelte auf das Autodach, als ihm einfiel, dass Toast Hawaii längst aus der Mode gekommen war.

Die Mädchen waren verschwunden und der Alte hatte das Haus bereits betreten, als ein schwerer, schwarzer Wagen am Parkplatz vorbeirauschte. Die Reifen spritzten Wasser von der Straße und nässten den schmalen Streifen Erde, der um den kümmerlichen Baum dort drüben noch verblieben war. Dreißig Ka-Em-Ha sehen anders aus, dachte er, aber manche glauben ja, dass sie sich alles erlauben können. Der ist auch auf der Durchreise irgendwohin. Vielleicht nur ins Fitnesscenter hundert Meter weiter. Aber vielleicht will der ja auch nach Berlin fahren, kann sein, für wichtige Geschäfte oder weil er endlich einmal seine Mitarbeiter zusammenstauchen will, die er sonst nur klein auf dem Bildschirm im Home-Office sieht. Einmal gemeinsam denselben Raum teilen, in natürlicher Größe, das soll ja für viele Menschen eine ganz neue Erfahrung sein.

Was kann man da machen, ging es ihm durch den Kopf. Vielleicht einfach mal neue Räume anbieten. Die Schülerinnen mit Toast Hawaii in den schwarzen Wagen setzen und sehen, was dabei herauskommt – wahrscheinlich eine Katastrophe, so jung wie sie sind, die Fahrt dürfte am nächsten Baum oder in einer Ladenfront enden. Jede Menge Pe-Es, nichts für schwache Nerven. Ka-We heißt das jetzt, pardon.

Den Alten könnte man in die Boutique versetzen. Die Verkäuferinnen, so stellte er es sich vor, würden erst einmal die Nase rümpfen und dem unerwarteten neuen Kunden zuerst ein Handtuch reichen. Und dann würden sie ihm alles Mögliche anzudrehen versuchen, ein schickes, eigentlich für Damen geschneidertes Hemd, einen schwarzen Businessanzug für die Frau von heute, und weil es so gut für die Umsatzzahlen ist: ein nettes Parfum. Dem Alten würde schwindlig werden und er würde vielleicht zum ersten Mal in seinem langen Leben an einen Rechtsanwalt denken.

Und die rot und grün gekleidete Frau — für sie passten die Räume der Schule. Sie könnte eine nette Lehrerin sein. Sie hätte dann immer pünktlich Feierabend und dürfte jeden Tag um diese Zeit nach Hause eilen, oder zum Kindergarten oder ihrem Steuerberater. Keine Frist müsste sie mehr versäumen. In der Schule wäre sie auch vor ihrem stalkenden Ex sicher. Er seufzte. Dann schaltete er die Zündung ein und startete den Motor. Er musste los. Kein Kopfkino mehr. Seine Raumpflegerin würde bald vor der Tür stehen.